Liebe Frau Britz-Averkamp, liebe Frau Eich-Fangmeier, gefühlt die halbe Welt sitzt aktuell im Homeoffice und versucht, in der neuen Arbeitswelt irgendwie zu überleben. Von einer gut organisierten Einführung und Vorbereitung der Mitarbeiter, wie Sie sie In Ihrem Buch Überleben in der neuen Arbeitswelt beschreiben, war die plötzliche Umsetzung im Frühjahr beim Ausbruch der Pandemie weit entfernt. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit die aktuelle Lage, das Streben nach neuen Arbeitswelten beeinflusst. Danke, dass Sie sich Zeit für unsere Fragen genommen haben.
In vielen Unternehmen verlief der Rückzug ins „Arbeiten von Zuhause“ aber mehr im Hau-Ruck-Verfahren. Von geordnetem und geplantem Übergang, wie Sie ihn in Ihrem Buch beschreiben, konnte vielerorts nicht die Rede sein. Was glauben Sie? Hat dieses Vorgehen negative Folgen im Hinblick auf die Akzeptanz der neuen Arbeitswelt?
Nein, ganz im Gegenteil. Wir hatten alle keine Wahl und wurden quasi über Nacht gezwungen, virtuell aus der Ferne zusammenzuarbeiten. Doch das Erstaunliche: Ds hat besser funktioniert als befürchtet. Ganz klar braucht es eine Übergangsphase bis die Technik steht, die Telefon- und Videotools einwandfrei bedient werden können, neue Regeln für die Zusammenarbeit entstehen, aber dieser weltweit erzwungene Feldversuch hat summa summarum den Beweis erbracht, dass Remote-Arbeit klappt.
Loslassen und Vertrauen schenken, das sind die großen mentalen Herausforderungen der Führungskräfte. Technik beherrschen, Raum und Zeit in Einklang bringen sowie sich selbst organisieren, das sind die großen Herausforderungen der Mitarbeiter. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer haben ihre Aufgaben bisher mit Bravour gemeistert und eine gute Basis geschaffen, auf der sie nun aufsetzen können. Corona hat die Umstellung auf die neue Arbeitswelt stark befeuert.
So manche Firmenchefs nehmen die Krise zum Anlass, sich mehr und mehr von der traditionellen Präsenzkultur zu lösen, mehr Freiräume zuzulassen und dadurch mehr Kreativität und Produktivität zu fördern. Und nicht zuletzt Kosten für Büromieten und Dienstreisen zu sparen. Für das verteilte Arbeiten und Führen auf Distanz sind die Analysen, Tipps und Checklisten in unserem Buch Überleben in der neuen Arbeitswelt, das wir wohl gemerkt vor der Krise begonnen hatten, heute umso aktueller. Sie helfen nun beiden Seiten, die Ad-hoc-Situation in einen strukturierten, aber flexiblen Dauerzustand zu überführen.
War bis vor wenigen Monaten der Wunsch der Mitarbeiter nach vermehrtem Homeoffice groß, wünschen sich viele nach den langen Wochen am heimischen Schreib- oder sogar Küchentisch das emsige Treiben im Büro, den persönlichen Austausch mit den Kollegen, den morgendlichen Plausch an der Kaffeekanne, selbst den nervigen Bürokollegen zurück. Auch Führungskräfte sind das Führen auf Distanz oftmals leid, frisst es doch enorm viel Zeit und zurück bleibt häufiger ein flaues Gefühl, ob man noch die ganze Mannschaft im Griff hat. Hat die Pandemie das Bestreben der neuen Arbeitswelt nach neuen Bürokonzepten, flexibleren Arbeitsmodellen sowie der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eher befeuert oder vielleicht sogar zurückgestoßen?
Es gibt natürlich Pro und Contra. Alle während der Krise durchgeführten Umfragen zeigen, dass die meisten Mitarbeiter nicht mehr ganz ins Büro zurück wechseln wollen. Wir schätzen, dass sich ein mehr oder weniger fester Mix von Heim- und Büroarbeit etablieren wird, zum Beispiel drei Tage offsite und zwei Tage onsite pro Woche oder umgekehrt. So wie wir es erleben, sind die Freiwilligkeit, Flexibilität und Abstimmung besonders wichtig. Nicht alle haben zu Hause einen Raum für einen geeigneten Arbeitsplatz, so manche fühlen sich zu sehr sozial isoliert und andere sind froh, tagsüber die Flucht aus dem häuslichen Umfeld mit den vielen Ablenkungen ergreifen zu können. Sie sehnen sich nach dem persönlichen Austausch und dem festen Rahmen in der Firma. Wieder andere freuen sich über mehr Freizeit durch enorm eingesparte Pendlerzeiten, kurze Wege zur Kita, ungestörtes Arbeiten im Homeoffice. Wir alle sind zum Glück verschieden und haben unterschiedliche Bedürfnisse in unterschiedlichen Lebensphasen.
Gute Zusammenarbeit und Teamspirit sind sowohl von Offenheit als auch von gegenseitigem Vertrauen abhängig. Die neuen flexiblen Arbeitsmodelle sind eine ideale Errungenschaft, um Privat- und Arbeitsleben in unterschiedlichen Lebensphasen miteinander zu vereinen. Von den jüngeren Bewerbern der Generation X und Z wird dieser Anspruch heute als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt.
Nach unserer Beobachtung erkennen viele Führungskräfte und Mitarbeiter, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen, wenn wir sie bewusst gestalten. Mobiles Arbeiten macht uns frei von Ort und Zeit. Klar, vielen von uns fehlt der persönliche Austausch und Smalltalk, der einerseits Orientierung und Impulse bringt, aber anderseits auch viel Zeit frisst. Doch auch Videokonferenzen eignen sich für Socializing und informellen Informationsaustausch. Das erfordert natürlich einiges an Überwindung, Selbstdisziplin und Eigenmotivation. Mit einigen Tricks geht das einfacher als gedacht: Für die Selbstorganisation im Multispace haben wir z. B. die 3-R-Methodik entwickelt: Mit selbstentwickelten Rahmen, Routinen und Ritualen erhalten wir Sicherheit, Effizienz und Bestätigung. Wenn die klaren, oft hierarchischen Ordnungsprinzipien um uns herum wegfallen, sind wir umso mehr gefordert, uns selbst eine gewisse Struktur zu geben, um die Komplexität zu reduzieren. Jetzt können wir uns endlich eine Struktur aussuchen, die am besten zu uns passt.
Insbesondere viele Frauen waren in den letzten Monaten gefordert, den Spagat zwischen Homeoffice und Homeschooling zu bewältigen. Die Work-Life-Balance – ein erklärtes Ziel der neuen Arbeitswelt – kam unter diesen Umständen sicherlich nicht zum Tragen. Natürlich befinden wir uns aktuell in einer Extremsituation. Was raten Sie selbst als erfahrene Führungskräfte und Managerinnen, insbesondere Arbeitnehmerinnen, um in Zukunft alle Möglichkeiten der neuen Arbeitswelt für sich gewinnbringend auszuschöpfen?
Zunächst einmal ist festzuhalten, mobiles Arbeiten unabhängig vom Geschlecht ist. Im plötzlich verordneten Lockdown im Frühjahr 2020 hatten natürlich die meisten Frauen Mehrarbeit, da ihnen „automatisch“ die Zusatzaufgaben von Homeschooling und Haushalt zufiel. Doch nicht nur sie hatten mehr Stress. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstitutes Forsa im April/Mai 2020 gaben 42 % der Väter und 49 % der Mütter an Erziehung und Beruf als Stressfaktor zu empfinden, während es vor der Krise „nur“ 33 % der Väter und 47 % der Mütter so beurteilte.
Da sich nun in den Unternehmen die Präsenzkultur zur Ergebniskultur verändert, können Männer genauso wie Frauen im Homeoffice tätig sein und ihren Teil des Familienmanagements – schon aufgrund der eingesparten Pendelzeiten – übernehmen. Da spricht nichts dagegen. Daher möchten wir alle Frauen auffordern, dies aktiv von ihren Partnern einzufordern.
Durch die flexible Arbeitsweise, unabhängig von Zeit und Raum, können die Einzelnen und insbesondere Frauen ihre Arbeitskraft freier einteilen, ihre individuellen Kompetenzen zielorientierter einbringen und ihre persönlichen Prioritäten besser managen. Gleichzeitig wird es für Frauen leichter, Führung zu übernehmen, da diese nicht mehr durch die reine Demonstration von Macht und physischer Präsenz vor Ort bestimmt wird. Im Gegenteil, die verteilte Arbeit in virtuellen Teams braucht flexibles und vernetztes Denken, Intuition und Organisationstalent, soziale Intelligenz und empathische Kommunikation. Das sind bekanntermaßen weibliche Stärken.
Dazu ein paar Praxistipps aus unserem Buch und Beratungsangebot im Karriere-Coaching von workisfaction:
- Machen Sie sich Ihre Talente bewusst, entwickeln Sie daraus Ihre eigene fachliche Rolle und übernehmen Sie dafür die Verantwortung im Sinne des kompetenzbasierten Rollenmanagements. Bringen Sie sich für ein messbares Ergebnis für das gesamte Team ein. Da die neue Arbeitswelt die patriarchalischen Hierarchiestrukturen aufbricht, entstehen neue Arbeitsmodelle, Berufsbilder und Aufgaben. Nutzen Sie die Kraft der Veränderungen, denn bei den verteilten Einsatzorten ist der Unternehmenserfolg mehr denn je von vielen unterschiedlichen Fähigkeiten abhängig.
- Falls Sie sich nicht genug beachtet oder benachteiligt fühlen, achten Sie auf Ihre Sichtbarkeit und lernen Sie „selbst bewusster“ und somit „selbstbewusster“ zu werden. Das ist gerade in Online-Konferenzen gut machbar, wo zu viel Zurückhaltung zu dauerhafter Nichtbeachtung führen kann. Wer schüchtern ist und nichts sagt, wird schnell „unsichtbar“.
- Stehen Sie zu Ihren Arbeitsbeiträgen und lernen Sie diese durch eine überzeugende Argumentation zu präsentieren – kurz, klar und kompetent. Legen Sie eventuelle Selbstzweifel ab und stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Die virtuelle Zusammenarbeit lebt von rhetorisch geschickter und empathischer Kommunikation.
- Wenn Ihnen die Selbstdarstellung schwerfällt, versuchen Sie nach dem Prinzip „Learning from the best“ vom Verhalten anderer, auch männlicher Kollegen zu lernen. Allein die Körpersprache und die Stimme machen oft den Unterschied. Doch bitte nicht durch Nachahmen und Verstellen der eigenen Natur! Sondern durch die kluge Kombination Ihrer Naturbegabungen mit den Wirkungsmechanismen des Erfolgs – mit Charme und Empathie im Ton sowie mit Fokus und Stärke in der Sache.
- New Work gibt Female Leadership einen Anschub, da es einen anlassbezogenen adaptiven Führungsstil erfordert. Führen auf Distanz funktioniert nicht mehr mit der hierarchischen Brechstange, nicht mehr alleine durch direktive Ansagen. Wirtschaftspsychologen empfehlen neben dem direktiven auch den visionären, den leistungsbezogenen, den beziehungsorientierten, den demokratischen und den Coaching-Führungsstil, der je nach Kontext anzuwenden ist. Auch das ist eine Chance für mutige, achtsame Frauen.
- Natürlich gibt es noch viel Nachholbedarf, bis die Gleichbehandlung in den Unternehmen wie in der Gesellschaft erreicht ist, doch nie waren die Chancen größer als heute. Die rechtlichen Grundlagen sind längst geschaffen, wie etwa das Entgelttransparenzgesetz. Deshalb fordern wir die Frauen auf: Kämpfen Sie für Ihre Rechte, für Ihre Karriere, für ein erfülltes Berufsleben und eine gute Work-Life-Balance! Die flexiblen Strukturen der neuen Arbeitswelt bieten Ihnen jetzt (endlich) die Grundlage dafür. Trauen Sie sich!
Um es auf den Punkt zu bringen: Corona – Fluch oder Segen für die neue Arbeitswelt?
An der Krise gibt es nichts zu beschönigen. Sie bringt unermessliches Leid und große Schäden mit sich und schränkt jeden von uns sowohl privat als auch beruflich enorm ein. Allerdings erzwingt sie durch den massiven Änderungsdruck neues Denken und weitreichende Umstellungen in vielen Disziplinen, was andernfalls nicht oder nur langsam passiert wäre. Sie bringt einen enormen Schub für die längst überfällige Digitalisierung und für die Einführung ebenso überfälliger flexibler Arbeitsmodelle. Das birgt sowohl Chancen als auch Risiken für Unternehmen und Individuen.
Für die Wissensarbeiter überwiegen unseres Erachtens ganz klar die Vorteile, wenn die Chancen in der neuen Arbeitswelt erkannt werden. Vielfältige Impulse, Denkanstöße und individuelle Lösungsstrategien dazu finden sie in unserem Buch Überleben in der neuen Arbeitswelt. An dieser Stelle möchten wir vor allem auf die Darstellung der „Future Skills“ (Zukunftskompetenzen) hinweisen, die für die berufliche Entwicklung jedes Menschen eine gute Leitlinie bieten.
Ein weiterer vorteilhafter Aspekt: Wenn persönliche Präsenz zukünftig beispielsweise an einem Arbeitstag pro Woche ausreichend ist, können für diesen einen Tag auch weitere Anfahrtswege in Kauf genommen werden. Dadurch ergeben sich neue und günstigere Wohnmöglichkeiten und somit Vorteile für Bewohner abseits von den großen Metropolen.
Nach der Pandemie: Was wünschen Sie sich? Welche Punkte, glauben Sie, gilt es unbedingt aufzuarbeiten, damit die Konzepte der neuen Arbeitswelt erfolgreich umgesetzt werden können?
Die unvermittelte Situation in der Arbeitswelt ist eine einmalige Chance für Unternehmen und Mitarbeiter (wenn wir mal von den großen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Pandemiebelastungen absehen). Sie wird den Abbau von Hierarchien und den Aufbau einer Vertrauenskultur beschleunigen, da Führen auf Distanz nur durch partnerschaftliche Kooperation, Eigenverantwortung und Freiräume erfolgreich sein wird. Das erfordert einen Bewusstseinswandel auf allen Ebenen. Jeder kann und sollte dazu beitragen, sowohl die Leistungsfähigkeit und Produktivität hochzuhalten, als auch das berufliche und soziale Leben besser miteinander zu verzahnen.
Gesellschaftlich und volkswirtschaftlich werden die größere Flexibilität, eingesparte Pendlerfahrten sowie reduzierte Büroflächen zu signifikanten ökonomischen und ökologischen Vorteilen führen wie weniger Verkehr, weniger Umweltbelastungen. Hier sind nun neue Konzepte in der Verkehrs- und Städteplanung notwendig.
Gleichzeitig hat die Zwangsdigitalisierung eklatante Mängel in der IT-Ausstattung im privaten und vor allem im öffentlichen Bereich sowie in den Digitalkompetenzen der Anwender offengelegt. Spätestens jetzt ist allen klar, dass der Nachholbedarf und der Handlungsdruck hoch sind. Natürlich bedeutet diese rasante Entwicklung große Nachteile für Menschen, deren Jobs durch Automatisierung und Digitalisierung bedroht sind. Am Arbeitsmarkt wird es daher zu großen Verschiebungen kommen. Wir wünschen uns deshalb mehr Digitalbildung für alle, insbesondere für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, flächendeckender Ausbau von schnellem Internet, bessere digitale Ausstattung von Verwaltung und Schulen, Förderung von Mädchen in MINT-Berufen, Lifelong-Learning und Qualifizierung. In Sachen Digitalisierung steht Deutschland auf einem beschämend schlechten Platz in der Welt. Schließlich werden Änderungsfähigkeit, Weiterentwicklung und die dafür notwendige Digitalisierung zum Überlebensprinzip in der Zukunft.
Was noch fehlt ist ein Homeoffice-Gesetz, wie es jetzt diskutiert wird. Einen Rechtsanspruch auf Homeoffice gibt es in Deutschland nicht. Der Gesetzesvorstoß soll nun jedem, der möchte und bei dem es der Arbeitsplatz zulässt, die Arbeit im Homeoffice grundsätzlich gestatten. Nun ist eine rechtliche Grundlage dringend notwendig, insbesondere im Hinblick auf Arbeitsschutz, -sicherheit, -ergonomie und -ausstattung zu Hause sowie steuerliche Berücksichtigung von entsprechenden Investitionen und Heimarbeitsplätzen. Doch sollten daraus keine Zwangsjacke und Bürokratielast entstehen. Statt enger Vorgaben, wie z. B. ein Recht auf 24 Tage Homeoffice, die willkürlich und realitätsfern sind, brauchen wir einen klaren Rechtsrahmen, der zugleich viel Gestaltungsfreiraum für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zulässt. Denn nur die Betroffenen wissen, welche Arbeitsmodelle für sie jeweils sinnvoll sind.
Und eines liegt uns besonders am Herzen: Wir brauchen einen kulturellen Wandel in der Gesellschaft und besonders in den Familien. Ein partnerschaftlich gleichberechtigtes Familienmanagement mit einer Familienarbeitszeit und flexiblen Arbeitsmodellen sind entscheidende Voraussetzungen die Existenzgrundlagen von Frau und Mann bis ins hohe Alter zu sichern. In diesem Sinne, es gibt noch viel zu tun.
Überleben in der neuen Arbeitswelt
Desk Sharing, Open Space, Mobiles Arbeiten & Co.
Survival Guide für Manager und Mitarbeiter
ISBN 978-3-96186-040-1