Als erfolgreicher Mediator und Coach ist Bestseller-Autor Michael Hübler üblicherweise viel unterwegs, um Führungskräfte zu schulen oder Vorträge zu halten. Doch wie viele Selbstständige ist er nun ebenfalls ins Homeoffice verbannt und beschäftigt sich mit der Berichterstattung zur aktuellen Situation. Und was macht ein Autor, der an den Schreibtisch gefesselt ist und plötzlich “zu viel” Zeit hat? Natürlich – er schreibt! Diesmal geht es um den Diversität-Gedanken und welches Konfliktpotential Diversität mit sich bringt.
Das Konfliktpotential des Diversität-Gedankens
Diversität hat viele Vorteile
Diversität ist in aller Munde und grundsätzlich eine feine Sache, weil sie in der Lage ist, komplexe Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten – und nur so sind nachhaltige Entscheidungen zu treffen. In meinem Buch “Die Bienenstrategie” beschreibe ich eingehend die Vorteile der Diversität, wobei es mir wichtig ist, damit nicht nur verschiedene Geschlechter, Lebensphasen, ein unterschiedliches Alter oder die sozio-kulturelle Herkunft zu bezeichnen, sondern auch verschiedene sich ergänzende Menschentypen.
Selbst die Diversität ist divers, was Diskussionen einerseits spannend und bereichernd macht, andererseits auch manchmal schwierig. Nichtsdestotrotz ist es – da sind sich die meisten Unternehmen wohl einig – unabdingbar, in einer sowohl globalisierten als auch komplexen Welt möglichst viele Perspektiven einzunehmen. Vor allem um diverse Kundenperspektiven zu berücksichtigen und damit zum einen nicht nur wenig anzuecken, sondern auch viele potentielle Wünsche vorwegzunehmen. Eine Kreativ-Methode wie Design-Thinking, die implizit beinhaltet, sich Personas als Kundenbeispiele auszudenken und Produkte oder Dienstleistungen aus deren Sicht zu erforschen, funktioniert erst dann richtig gut, wenn sie sich unterschiedliche Sichtweisen nicht erst künstlich „aus der Nase zaubern“ muss, sondern bereits im Entwicklungsteam Vertreter/innen der entsprechenden Sichtweisen vorhanden sind. Ein potentielles Team aus lauter männlichen 30-jährigen, autofahrenden, kinderlosen Ingenieuren vertritt nun einmal eine bestimmte Sicht auf die Welt. Während eine Alleinerziehende, ein Mensch mit Migrationshintergrund, der Vater einer kinderreichen Familie oder ein älterer Mensch logischerweise andere Sichtweisen einnehmen.
Ein Gruppenzugehörigkeits-Sein schafft Konflikte
Soweit kurz und knapp die Vorteile der Diversität in Unternehmen. Kommen wir nun zum Titel des Artikels und damit zu den angesprochenen Schattenseiten. Die große Gefahr der Diversität in Unternehmen lässt sich als Spiegelphänomen einer identitären Gesellschaft betrachten. Wir leben mittlerweile in einer Welt, in der vielen Menschen in Diskussionen das Sein ihres Gegenübers wichtiger ist als das, was er oder sie tut. Dass dem so ist, ist zuerst einmal eine gute Nachricht. Denn das eigene oder fremde Sein wichtig zu nehmen, könnte von einer hohen Wertschätzung zeugen.
Sind Menschen jedoch zu sehr mit dem Sein beschäftigt, erhöht dies ihre Konfliktbereitschaft. Sie ernähren sich dann nicht mehr vegan oder vegetarisch, sind alleinerziehend, haben einen Migrationshintergrund, sondern sind Veganer, Vegetarier, alt oder jung, männlich oder weiblich usw. Sie ziehen aus ihrem Sein einen gewissen Stolz. Das Sein bezieht sich damit weniger auf einzelne Personen oder deren Kompetenzen im Tun, sondern auf die stolze Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die auf der einen Seite klare Wertvorstellungen bis hin zu Klischees vermittelt und zu der ich mich auf der anderen Seite im Falle eines Konfliktes solidarisch zeigen möchte. Betonen wir dieses Gruppenzugehörigkeits-Sein in zu hohem Maße, verstärken sich auch die Abgrenzungen zu anderen Gruppen.
Konfliktpotential der Diversität für Unternehmen
Die Gefahr einer identitären und bisweilen auch ideologischen Bestrebung der Abgrenzung gegen andere Gruppen, die wir aus der Gesellschaft kennen, ist in Unternehmen glücklicherweise geringer, da hier der direkte und regelmäßige Austausch untereinander in der Regel einige Konfliktpotentiale abfedert. Kommunizieren wir jedoch auf Distanz oder befinden uns in einem sehr großen Unternehmen, ist dieses spalterische Potential durchaus vorhanden, wenn es heißt: Die wird nur genommen, weil sie eine Frau ist. Oder: Der wird nur genommen, weil wir noch jemanden brauchen, um eine bestimmte Quote zu erfüllen.
Gute Kommunikation entscheidend
Wie eingangs erwähnt: Die Vorteile, eine Person gerade wegen ihrem sozio-kulturellen Hintergrund ins Team zu holen, liegen auf der Hand. Dennoch sollten Unternehmen ebenso auf dem Schirm haben, dass sich damit eventuell bislang privilegierte Gruppen oder Personen, die sich um solche Themen bisher zumindest keine Gedanken machen mussten, nun benachteiligt fühlen. Das Thema totzuschweigen im Sinne von „Wir wollen uns nun einmal divers aufstellen und damit Ende der Diskussion” macht die Meckerer vielleicht mundtot. Das Thema ist damit jedoch nicht vom Tisch. Besser wäre es, offen anzusprechen, warum es wichtig ist, dass eine bestimmte Person mit ins Team soll und dass das sowohl mit ihrer Herkunft und ihrem sozio-kulturellen Hintergrund zu tun hat, als auch mit ihren ganz persönlichen Kompetenzen. Darin spiegelt sich genau das wieder, was mit der Sprachregelung “Mensch mit …-Hintergrund” verdeutlicht werden soll. Es zählen der Mensch und der Hintergrund.
Überbetonte Zugehörigkeiten fördern Opfermentalitäten
Gleichzeitig kann eine Überbetonung des Seins eine Opfermentalität im Unternehmen fördern. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Privilegien erfolgt heutzutage nicht nur über Leistung, sondern auch über Benachteiligungen. Wird Respekt lediglich für das eigene Sein beziehungsweise die Zugehörigkeit eingeklagt, entsteht eine Schieflage. Dann ginge es nicht mehr darum, voneinander zu lernen und gemeinsam mehr zu erreichen, sondern darum, sich am kleinsten gemeinsamen Nenner zu orientieren. Schlimmstenfalls entsteht ein Neid in beide Richtungen: Die einen neiden den anderen ihre Zugehörigkeit, aufgrund derer sie sich vermeintlich nicht anstrengen müssen, um Anerkennung zu erhalten, und haben Angst davor, alte Privilegien aufgeben zu müssen. Die anderen neiden den einen ihre alten Privilegien und bringen nun ihr bislang unterprivilegiertes Sein als Waffe in Stellung. Damit ist beiden Seiten nicht geholfen.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie Unternehmen damit umgehen sollten, wenn sie realisieren, dass bei ihnen eine doppelte Opferkultur entsteht. Die ehemals Privilegierten oder Sorglosen zurecht zu stutzen ist schwierig, da damit neue Konfliktpotentiale entstehen. Die Neu-Privilegierten ausnahmslos zu fördern, forciert womöglich bereits vorhandene Opfermentalitäten noch mehr, wenn das Motto lautet: Der am meisten Benachteiligte muss sich am lautesten beklagen, um unterstützt zu werden. In einer solchen Kultur kann niemand gewinnen.
Es geht folglich auch hier darum, die eigene Diversität und die damit eventuell verbundene Benachteiligung nicht als Waffe zu akzeptieren, sondern ebenso auf positive Aspekte der Qualität und der Arbeit im Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen zu achten – beziehungsweise den gesamten Menschen zu sehen, um Stigmatisierungen zu vermeiden, die ja verhindert werden sollten. Es geht auch hier darum, Chancengleichheit herzustellen und gleichzeitig die Leistung jedes/r Einzelnen zu betrachten. Darin liegt jedoch auch die Möglichkeit einer echten, von Zugehörigkeiten unabhängigen Gleichberechtigung.
Eine oberflächliche Diversität verhindert echte Lösungen
Dass Sprache Wirklichkeit schafft, ist eine bekannte Tatsache. In diesem Sinne spiegelt Sprache nicht nur die aktuellen Verhältnisse wieder, sondern bereitet auch neue Verhältnisse vor. Bereits der Versuch, mit neuen sprachlichen Regelungen diesem Phänomen gerecht zu werden, ist ein Schritt zu einer Kultur der Gleichbehandlung. Auch wenn wir dies vermutlich niemals erreichen werden, da der Mensch zu etwa 50% von Natur aus ungleich ist, was seine Schnelligkeit, Klugheit, Aggressivität, sprachliche Gewandtheit und rhetorischen Fähigkeiten oder sein Charisma angeht. Eine vollkommene Gleichheit herzustellen wäre auch nicht Sinn der Sache. Denn dann würde man den eingangs beschriebenen Diversitätsgedanken seiner Vorteile berauben.
Denn wer gleich ist, nimmt die gleichen Sichtweisen ein. Es kann ja nicht darum gehen, die Leisen lauter zu machen und die Lauten leise, die Alten jung und die Jungen alt oder die Männer weiblicher und die Frauen männlicher, damit sich beide in der Mitte treffen. Man soll vielmehr die jeweiligen Qualitäten erkennen und erhalten und sich auf einer neuen Ebene der Gemeinsamkeiten treffen. Dies lässt sich mit gemeinsamen Zielen, Visionen oder Missionen erreichen. Aus diesem Grund sind in divers aufgestellten Unternehmen Leitbilder, auf die sich alle einigen können und wollen, noch wichtiger als mit einem homogenen Mitarbeiterstamm.
Diversität als Ablenkung
Die Beschäftigung mit Diversitätsthemen und Sprachregelungen kann jedoch auch dazu führen, dass weniger Zeit für andere Themen übrig bleibt. Mehr noch: Wer sich hauptsächlich um Sprachregelungen kümmert, verdeckt häufig echte Lösungen für Probleme. Wird wie in einem Video aus der Comedy-Serie “Kroymann” (YouTube-Video) nach einem Ausländer im Unternehmen gesucht, um sich ein Diversity-Image zu geben, „weil das heutzutage jeder braucht“ und werden gleichzeitig Bezeichnungen gegendert, „weil das als Zeichen für die Kundinnen und Kunden notwendig ist“, führt dies noch lange nicht zu einem echten Wandel der Geisteshaltung im Unternehmen. Ob es sich manche Unternehmen zu leicht machen, indem sie ein paar Schildchen austauschen oder ob eine Veränderung von Bezeichnungen langfristig tatsächlich zu einer Veränderung der Wirklichkeit führt, mag jede/r für sich selbst beantworten.
Verteilung der Kompetenzen
Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Debatte, wer sich um welche Themen kümmern sollte, in einem anderen Licht. Auf der einen Seite progagiert man im Zuge der Cancel Culture, dass man fremde Kulturen nicht okkupieren darf. Ein Mann sollte sich nicht um Frauenthemen kümmern und unterprivilegierte Minderheiten sollten von eben solchen vertreten werden, wie in der Debatte um die geplante Übersetzung des Inaugurationsgedichts von Amanda Gorman durch die Holländerin Marieke Lucas Rijneveld (siehe SZ-Artikel) deutlich wurde. Abgesehen davon, dass damit jede Gruppe in ihrer Filterblase eingeschlossen bleibt und die Empathie für andere Gruppen nicht geschult wird – was letztlich zu einer Entsolidarisierung und damit Erhöhung des Konfliktpotentials im Unternehmen führt –, kümmern sich schlimmstenfalls Unterprivilegierte um “Unterprivilegiertenthemen” und eben nicht um die prestigeprächtigen Themen der Mehrheit. Drastischer formuliert: Während Frauen sich mit Gleichberechtigungsthemen beschäftigen oder im Gleichstellungsbüro „geparkt“ werden, machen die Männer Karriere.
Lösungsansatz zum Konfliktpotential der Diversität
Unternehmen brauchen folglich eine Klammer, die alles zusammenhält: Die diversen Gruppenzugehörigkeiten ebenso wie die Individualität jeder einzelnen Person. Dies erreichen sie mit einer glaubhaften Vision und Mission oder einem Leitbild der Diversity, das nicht von oben herab gepredigt, sondern tatsächlich gelebt wird. Wer weiß, was alle im Unternehmen miteinander verbindet und dass jede/r, egal mit welchem Hintergrund und mit welcher Persönlichkeit gebraucht wird, kann auch seine eigenen Befindlichkeiten zeitweilig hinten anstellen und auf der Basis dieser Zivilität respektvoll miteinander umgehen.
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Weitere Themen rund um “New Work” beschäftigen Michael Hübler auch in seinen Büchern.
Über den Autor
Michael Hübler ist Mediator, Berater, Moderator und Coach für Führungskräfte und Personalentwickler. Als Konfliktmanagement- und Verhandlungstrainer zeigt er, wie wertvoll der Schritt von einer „Heilen-Welt-Philosophie“ zu einer transparenten, agil-mutigen Führung ist.Bei metropolitan von Michael Hübler erschienen:
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